Mittwoch, 11. Juli 2012

Brillenfrei

Ein Leben ohne Brille muss wunderbar sein. Klarsicht in alle Richtungen. Kein mühsames Suchen nach der "richtigen Perspektive" - also nach dem Punkt im Gleitsichtglas, wo gerade das scharf ist, was scharf sein soll. Kein Beschlagen beim Topfdeckelheben und vor allem: Keine Tapper, wenn beim Unkrautjäten mal die erdige Zeigefingerspitze vom Gartenhandschuh aus Versehen auf der Mattscheibe landet. Wenn das passiert, gibt's nur eins: Gartenhandschuhe ausziehen, die schmutzigen Schlappen auf der Terrasse abstellen und langsam und vorsichtig, mit den Händen weiträumig die Umgebung abtastend, das Badezimmer suchen. Dabei möglichst nicht mit erdverschmierter Hose oder den Krümeln irgendwelcher Blütenreste aus den Haaren zu dicht am weißen Sofa vorbeikommen oder die herumliegende heilige Zeitung bebröseln. Wenn der Wasserhahn gefunden und aufgedreht ist, erstmal Hände waschen. Dann die Brille von der Nase nehmen und säubern. Dann das Ganze wieder rückwärts - und erst dann kann frau endlich weiter dem Unkraut zu Leibe rücken. - Und froh sein, wenn nicht das Brillengestell ständig von der Nase rutscht - weil - jawoll, weil : Gartenarbeit anstrengend ist.
Schluss damit! Welche Freude: "Kontaktlinsen? - Kein Problem!", sagt der Arzt, während eine gefühlte Anzahl von x plus unendlich seiner Vorgänger der Meinung waren, dass meine Augen sich für Kontaktlinsen nicht eignen. Seit 35 Jahren sagen sie es und ich hab's geglaubt! Juchhuuu! Jetzt gibt's kein Halten mehr!
Ich bekomme zwei Probelinsen. Die eine ist grün und die andere lila eingefärbt - ich nehme an, dass man weiß, welche ins rechte und welche ins linke Auge gehört. Bei mir gehört die lila Linse nach links und die grüne nach rechts. Kein Problem. Denn so lange ich die Brille auf der Nase habe, kann ich beide voneinander unterscheiden. Sieht lustig aus, sagt die Optikerin und sieht mir tief in die Augen.  Ich glaube ihr. Obwohl ich nichts sehe. Also ich meine: Wirklich nichts.
Und: Es bleibt mühsam. Und das, obwohl ich heute schon beim Kontaktlinsentag Nr. 6 angekommen bin. Sechs Stunden lang darf ich sie tragen. Alles Gewöhnungssache, sagte die Optikerin.  Und mit der verständnisvollen Miene der Expertin: "Alles ganz normal!"
Normal? Dass ich so oft mit den Augendeckeln klappe, dass ich schon bestimmt Muskelkater hätte, wenn es an den Lidmuskeln sowas gäbe? Dass die Welt aussieht, als wäre sie schon unscharf erschaffen worden? Dass es mir nur gerade so und mit Hilfe einer Vergrößerung im Maßstab ein Wort - ein Bildschirm gelingt, diesen Text zu schreiben? Dass ich vor dem Beet stehe und überlege, ob das grüne Dings da nun wirklich ein Löwenzahn ist?
Hilferuf! Die Optikerin seufzt. "Ja, ich habe es Ihnen schon gestern gesagt und vorgestern auch und davor sowieso." Sie säuselt ins Telefon. "Haben Sie Geduld! - Nur nicht aufgeben! Sie schaffen das!"
Also gut. Ich übe mich in Geduld. Und ich werde es schaffen! Ganz bestimmt!


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